LIBERTÉ CHÉRIE – EINE LOGE IN DER „HÖLLE“

Br. Eric Quenouille, Musikmeister der christlichen Freimaurerloge VI VERITATIS, Heidelberg

So geschehen in Esterwegen im niedersächsischen Emsland: Hier im Moorgebiet wurde bereits im Sommer 1933 eines der frühen Konzentrationslager errichtet, das Emslandlager VII, in welches vor allem politische Gefangene wie Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter gebracht wurden. Einer der berühmtesten Insassen war beispielsweise der Pazifist und Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky (1889-1938), der schließlich an den Folgen der Misshandlungen im Lager starb.

Das KZ Esterwegen, das auch „Hölle im Moor“ genannt wurde, war wie andere Emslandlager unter anderem dafür bekannt, dass viele der Insassen unter extremer körperlicher Arbeit zur Moorkultivierung eingesetzt wurden, woran noch heute das Lied „Wir sind die Moorsoldaten“, bekannt geworden durch den deutschen Liedermacher Hannes Wader, erinnert.

Im Jahr 1936 wurde das Konzentrationslager zu einem Straf- und Kriegsgefangenenlager umgebaut, so dass unter anderem in den Jahren 1943 und 1944 sogenannte „Nacht-und-Nebel-Häftlinge“ hier inhaftiert waren. Derart wurden Personen bezeichnet, die im Verdacht standen, dem Widerstand gegen das Regime der Nationalsozialisten anzugehören. Diese wurden bei Razzien gegen die Resistance auf Geheiß eines Führererlasses, dem so genannten „Nacht und Nebel-Erlass“ vom 7. Dezember 1941, in ganz Europa festgenommen, verschleppt und abgeurteilt. Dies geschah heimlich, ohne dass die Angehörigen irgendwelche Auskünfte erhielten, denn ihr spurloses Verschwinden sollte der Abschreckung dienen. Diese „Nacht und Nebel“-Gefangenen wurden im Lager streng von den anderen Häftlingen isoliert.

Im Lager herrschten unmenschliche Lebensbedingungen – Folter und Hinrichtungen sowie katastrophale hygienische Verhältnisse und schwerste Arbeitseinsätze bestimmten den Alltag im Lager. Die Ernährung war so miserabel, dass die Gefangenen jeden Monat durchschnittlich vier Kilogramm an Gewicht verloren.

In „Baracke Nummer 6″ waren mehr als hundert Insassen untergebracht – allesamt Widerstandskämpfer und politische Gefangene. Hier verrichteten die Gefangenen Arbeiten, die hauptsächlich aus dem Sortieren von Patronen und dem Ausrollen von Kondensatoren bestanden. Unter den Nacht-und-Nebel-Gefangenen – insgesamt zählte das KZ Esterwegen etwa 2.700 von ihnen – erkannten sich hier 1943 sieben belgische Insassen gegenseitig als Freimauer:

Franz Rochat, ein Apotheker und Universitätsdozent aus St. Gilles, Jean Sugg, ein Pharmavertreter aus Gent und Guy Hannecart, ein Rechtsanwalt und Leiter der „La Voix des Belges“ („Die Stimme der Belgier“) kannten sich bereits aus ihrer gemeinsamen Loge „Les Amis Philantropes No. 3“ („Die Philanthropischen Freunde“) im Orient Brüssel. Rochat und Sugg gehörten zudem derselben Widerstandsgruppe an. Weitere Brüder waren Paul Hanson, ein Friedensrichter aus der Gegend von Lüttich, Luc Somerhausen, ein Journalist aus Hoeylaert, Joseph Degueldre, ein Doktor der Medizin, sowie der Studienrat Amédée Miclotte.

Zu Beginn versammelten sich die Brüder in einer Art „brüderlichem Kreis“ unter dem Namen „Liberté Chérie“, deren Name, übersetzt etwa: „Freiheit, Geliebte“, angelehnt an die sechste Strophe der französischen Nationalhymne war.

Luc Somerhausen, ein Mitglied der Loge „Action et Solidarité“ in Brüssel, war mit den Ritualen und Abläufen einer Logengründung am besten vertraut und wohl die Schlüsselfigur dieser Versammlungen. Unter strengster Geheimhaltung gründeten die sieben Brüder um den 15. November 1943 herum in jener Baracke 6 am Tisch 3, an dem die Häftlinge Patronen sortieren mussten, die Loge „Liberté Chérie“. Zu ihrem Meister vom Stuhl wählten sie Paul Hanson. Luc Somerhausen wurde zum Ersten Aufseher ernannt, während Franz Rochat das Amt des Sekretärs und Amédée Miclotte das des Redners übernahmen. Die Besetzung des Amtes des Zweiten Aufsehers ist heute unklar.

Trotz der entsetzlichen Bedingungen im Lager, nahmen die Brüder ihre freimaurerische Arbeitauf. Wie diese Arbeiten tatsächlich aussahen, lässt sich leider nicht mehr genau rekonstruieren, da die meisten Aufzeichnungen hierzu verloren gegangen sind. Gesichert scheint jedoch, dass die Brüder sich wöchentlich trafen, in der Regel sonntagmorgens. Es wird berichtet, dass die Brüder Hilfe von katholischen Gefangenen erhielten, die sich zeitgleich im hinteren Teil des Schlafsaals zur heimlichen Messe mit zwei ebenfalls deportierten Priestern versammelten. Inwieweit diese tatsächlich bewusst für die äußere Deckung der freimaurerischen Versammlungen sorgten, ist nicht gesichert, auch wenn dieser „Mythos“ des außergewöhnlichen Miteinanders bzw. Verbündens der eigentlich „verfeindeten“ Katholiken mit Freimaurern gerne berichtet wird. Einige Quellen erklären, dass die freimaurerischen Treffen unter anderem deshalb während der christlichen Versammlungen stattfanden, weil nur dadurch ein Minimum an Diskretion gewährleistet werden konnte – wie man sich bei der großen Anzahl an Häftlingen in der räumlichen Enge der Baracke gut vorstellen kann. Sicher ist aber wohl, dass die Brüder von den anderen Mithäftlingen unterstützt wurden, welche den Eingang der Baracke sicherten.

Es ist überliefert, dass die Arbeiten der Brüder aus einem stark reduzierten, geradezu minimalistischen Ritual bestanden. Unter anderem wird von Vorträgen zu Themen wie Freiheit, die Rolle der Frauen in der Freimaurerei und zur Zukunft des Landes berichtet, die anschließend diskutiert wurden. In ihrem Häftlingsalltag verhielten sich die Brüder getreu ihrer freimaurerischen Ideale solidarisch, teilten ihr Essen und zeigten sich auch gegenüber ihren Mithäftlingen hilfsbereit.

Bemerkenswert ist, dass es sogar zur Aufnahme eines neuen Bruders, dem Belgier Fernand Erauw, kam. Über die Aufnahme Erauws schreibt Luc Somerhausen:

„Diese Zeremonie, zu deren Geheimhaltung man die Gemeinschaft der Priester um Hilfe gebeten hatte, die wiederum von uns Beistand bei ihren Gebeten erhielten, fand um einen der Essenstische herum nach einem sehr stark vereinfachten Ritual statt, dessen einzelne Bestandteile dem Neuaufgenommenen aber erklärt wurden und der fortan an der Arbeit der Loge teilnahm.“

Später kamen noch die Brüder Henri Story, ein Geschäftsmann, liberaler Politiker und Schöffe von Gent sowie Jean De Schrijver, ein ehemaliger Offizier der belgischen Armee, als Mitglieder dazu, als diese im Februar und März 1944 in Esterwegen ankamen.

Die Arbeit der Loge wurde schließlich im Frühjahr 1944 eingestellt, da alle Nacht-und-Nebel-Gefangenen in andere Lager verlegt wurden. Franz Bridoux, ein damals 19-jähriger Fahnenflüchtiger und Widerstandskämpfer und ebenfalls Häftling im Lager, gilt als einer der letzten Augenzeugen der Geschehnisse um diese Loge. Über deren Geschichte und ihre Mitglieder forschte er später intensiv und schrieb das Buch „Liberté Chérie – In Nacht und Nebel“, in welchem er die Ergebnisse seiner Forschungen darlegte sowie ungeschönt die grauenvollen Zustände, aber auch die eindrucksvolle Geschichte rund um diese bemerkenswerte Loge aus seinem eigenen Erleben schilderte.

Der Mut und die gelebte Brüderlichkeit der Logenbrüder hatten bei Bridoux einen tiefen Eindruck hinterlassen, so dass er sich 1966 schließlich selbst zum Freimaurer der Loge „Les Amis Philantropes“ in Brüssel aufnehmen ließ.

Luc Somerhausen sowie Fernand Erauw waren die einzigen Überlebenden der Naziherrschaft. Nach der Befreiung schickte Somerhausen dem Großmeister des Großorients von Belgien einen ausführlichen Bericht über die Geschichte dieser besonderen Loge. Dieser Bericht gilt heute als verschollen, aber die Loge „Liberté Chérie“ wurde nachträglich als gerechte und vollkommene Loge unter der Matrikelnummer „29bis“ in das Großlogenverzeichnis in Brüssel registriert.

Luc Somerhausen verstarb 1982 im Alter von 79 Jahren, Fernand Erauw 83jährig im Jahr 1997.

Anmerkung:

Leider ist trotz gewissenhafter Recherche eine ganz präzise, geschweige denn vollständige Rekonstruktion der Geschichte der Loge „Liberté Chérie“ diffizil bis unmöglich, denn leider bleibt bis heute vieles unklar: Teilweise widersprechen sich die Quellen und über bestimmte Punkte lässt sich so gut wie nichts mehr in Erfahrung bringen.

Als Beispiel sei die Gründung der Loge genannt:

Ich habe mich auf Quellen bezogen, welche Paul Hanson, Luc Somerhausen, Guy Hannecart, Jean Sugg, Joseph Degueldre, und Amédée Miclotte als Gründungsmitglieder benennen. Luc Somerhausen dagegen berichtet abweichend davon, dass es sich neben ihm selbst um Paul Hanson, Jean De Schrijver, Jean Sugg, Henry Story, Amédée Miclotte und Franz Rochat handelte. Hierbei ist jedoch zu erwähnen, dass Luc Somerhausen bei seiner Rückkehr aus Deutschland am 21. Mai 1945 körperlich schwer versehrt war und unter anderem an Gedächtnisproblemen litt.

Auch zum Datum der Gründung gibt es abweichende Quellen: Neben dem hier genannten 25. November 1943, sprechen andere Quellen von einer Gründung im Dezember 1943 oder Januar 1944. 

Aber unabhängig von den sich unterscheidenden, lückenhaften und sich teilweise widersprechenden Quellen bleibt eine Sache unzweifelhaft: Die reine Tatsache der Existenz der Loge „Liberté Chérie“ ist ein Zeugnis vom Mut ehrenhafter Männer und letzten Endes ein großartiges Zeichen der Menschlichkeit und Hoffnung in einer der dunkelsten Zeiten der Menschheitsgeschichte!

Einige interessante Quellen für Interessierte:

Franz Bridoux: Liberté Chérie – In Nacht und Nebel: Gründung einer Freimaurerloge im KZ Esterwegen. Salier Verlag, 1. Auflage 2015, ISBN 978-3-943539-46-2.

Festschrift der Johannisloge „Kosmos“ im Orient Königswinter. Futura GbR Digital Printing Münsterstr. 51 48624 Schöppingen, 1. Auflage, 2013.

https://www.deutschlandfunk.de/licht-in-der-hoelle-im-moor-eine-freimaurerloge-im-kz-dlf-60257c71-100.html

https://www.freimaurer-wiki.de/index.php/Libert%C3%A9_ch%C3%A9rie

Auf Französisch:

https://www.belgiumwwii.be/belgique-en-guerre/articles/liberte-cherie-une-loge-maconnique-au-camp-d-esterwegen.html